Ist der War for Talents durch Corona besiegt wurden? Wie verändert die aktuelle Corona–Krise den Arbeitsmarkt? Und tut sie es überhaupt so, wie viele es derzeit behaupten? Das sind relevante Fragen, die HR seit Wochen beschäftigen. Was Arbeitgeber jetzt zum Thema Personalgewinnung wissen müssen – hier gibt es Antworten!
Corona und der War for Talents
In den vergangenen Wochen wurden mehr und mehr Stimmen laut, welche die aktuelle Entwicklung des „War for Talents“ als beendet deklarieren. Egal, welche der verschiedenen Szenarien Wirtschaft, Politik und Gesellschaft derzeit betrachten: U, V, L, W oder das Nike Symbol, der „Swoosh“ – alle begründen, dass Firmen durch die derzeitige Lage zunehmend Personal freisetzen oder einen Einstellungsstopp verhängen (müssen).

Werden die Mächte auf dem Arbeitsmarkt neu verteilt?
Dieser Theorie zufolge geraten vermehrt Arbeitnehmer*innen in den Zwang, sich bei den Unternehmen proaktiv zu bewerben. Infolgedessen haben Arbeitgeber wieder die “Oberhand” gewonnen. Die Konsequenz ist eine schrittweise Rückentwicklung zu einem Arbeitgebermarkt. Bei manchen Autor*innen dieser Prognose schwingt eine stille Sehnsucht mit. Sie hoffen, dass die “guten alten Zeiten” zurückkämen, in denen die Bewerber*innen nicht mehr mit exorbitanten Gehaltsvorstellungen und einer schier unendlichen Liste an Benefit-Wünschen drohen, “anstrengend” zu werden. Stattdessen sollen sie (wieder) dankbar sein, dass überhaupt noch eine Arbeit bekommen.
Corona verstärkt den Fachkräftemangel
Spaß beiseite! Diese Darstellung der Hoffnung von HR ist natürlich bewusst übertrieben gewählt. Schließlich führt der Wunsch, die “Post-and-Pray-Ära“ wieder aufleben zu lassen, in die gänzlich falsche Richtung. Denn Corona entschärft den Fachkräftemangel nicht – im Gegenteil. Sie lässt ihn sogar noch weiter eskalieren.
Wo vorher Firmen nach Spezialist*innen beispielsweise im Bereich IT im Allgemeinen oder Online Marketing gesucht haben, sind jetzt noch viel mehr Unternehmen nach eben diesen Expert*innen auf der Suche. Denn Corona hat Schwachstellen ans Tageslicht gebracht, die teils bekannt waren, aber zu wenig Aufmerksamkeit bekommen haben. Fehlende IT-Infrastrukturen, um Mitarbeitende ins Homeoffice zu schicken oder mangelnde Social Media Präsenz von Unternehmen sind „nur“ die Spitze vom Eisberg. An diesen Stellen wird auch weiterhin nach qualifizierten Talenten gesucht. Der Haken ist nur, dass die Anzahl verfügbarer Ressourcen (fast) gleichgeblieben ist. Dabei ist die Rechnung wie auf jedem Marktplatz simpel: Wenn das Angebot gleichbleibt und die Nachfrage zunimmt, steigt automatisch der Preis der „Ware“.
Der Arbeitsmarkt: Es gibt Unterschiede
Doch reine Pauschalisierungen und Schwarz-Weiß-Denken trifft nicht die ganze Lage auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt große branchen- und berufsbedingte Unterschiede. Folgende Beispiele wurden in den letzten Monaten deutlich:
Branchen:
Aufgrund der besonderen Umstände gibt es Branchen, wie die Telekommunikation, Pharmaindustrie und E-Commerce, denen Corona zu einem wirtschaftlichen Aufschwung „verholfen“ hat. Wiederum andere Sektoren, wie fast der gesamte Dienstleistungssektor, dabei vorwiegend Gastronomie, Tourismus sowie die Veranstaltungs– und Eventszene, haben es schwerer. Darüber hinaus leidet ebenfalls die Luftfahrtbranche. Ganz zu schweigen von etwaiger Doppelbelastung, wie zum Beispiel im Gesundheitswesen. Hier ist neben den personellen Engpässen auch die gesamtwirtschaftliche Lage kritisch zu bewerten.
Es gleicht einem zweischneidigen Schwert: So sind je nach Branche mehr oder weniger Arbeitnehmer*innen frei(–gesetzt) geworden und (aktiv) auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber. Darunter fallen auch Freelancer, die nun Festanstellungen bei Agenturen im Visier haben. Andere Arbeitgeber aus boomenden Branchen gehen hingegen verstärkt auf “Personaljagd”, um Kundenanfragen etc. nachkommen zu können.
Laut Statista sagen zudem 44% der befragten Unternehmen, dass die Bewerbungsanzahl während Corona relativ gleich geblieben ist. Ein eindeutiges Bild lässt sich demnach nicht abzeichnen.
Berufsfelder:
Somit schallt nach wie vor der Wunsch nach mehr Fachkräften aus den Reihen vieler Unternehmen. Hier zeigt sich ein unverändert hoher Bedarf in der IT und dem Online Marketing – auch, wenn es hier nicht alle Bereiche gleichermaßen betrifft. Zum einem hat die Krise einige Unternehmen wachgerüttelt und ihnen vor Augen gehalten, dass sie dringend nachrüsten müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Zum anderen entsteht bei den „Gewinnern“ der Krise ein zusätzlicher Bedarf an qualifizierten Kandidat*innen. Und wiederum andere Arbeitgeber sehen in der Krise die Chance, gerade jetzt in den Ausbau des Unternehmens zu investieren. Daher bleibt die Nachfrage vor allem von Spezialist*innen-Stellen für künstliche Intelligenz, Data Analytics oder SEO-/SEA-Optimierung weiterhin hoch und steigt teilweise noch.
Der Arbeitsmarkt als hybride Form
Eine alte Börsenweisheit besagt: „Prognosen sind schwierig – vor allem wenn sie die Zukunft betreffen“. Und dennoch kann man mutmaßen, dass sich „der“ Arbeitsmarkt voraussichtlich aufteilen und eine hybride Form annehmen wird – in Bereiche mit starkem Engpass und in Bereiche mit einem Überangebot. In der neuesten Studie von StepStone geben 90% der attraktivsten Arbeitgeber der Welt an, dass Employer Branding für sie die mit Abstand oberste Priorität hat. Wenn also bereits die attraktivsten Arbeitgeber der Welt trotz ihres Status diese Priorität so setzen, welchen Aufwand sollten sich dann alle anderen Firmen machen, die diese Grundvoraussetzungen nicht haben?
Folgen für HR
1. Zielgruppengenaue Ansprache beachten
Für HR bedeutet diese Hybridisierung des Arbeitsmarktes, dass sie sich noch stärker als bisher um qualifizierte Kandidat*innen bemühen werden müssen. Wichtig dabei ist vor allem, eine Strategie zu verfolgen, mit der die Ansprache potenzieller Bewerber*innen facettenreich und zielgruppenorientiert ist. Insbesondere dann, wenn Teile der offenen Vakanzen eines Unternehmens in Engpassberufen sind und andere Teile aus Stellen mit extremen Überangebot bestehen. Gerade hierbei ist das Herausstechen auf dem Arbeitsmarkt als Arbeitgeber sowie das (vertiefte) Eingehen auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmenden essentiell.
2. Corona beschleunigt HR-Prozesse:
Zudem beschleunigt die Krise viele HR-Prozesse enorm und hat die Notwendigkeit einiger in ein gänzlich neues Licht gerückt. An erster Stelle ist die Digitalisierung im Recruiting zu nennen. Schließlich macht dieser Wandel nicht vor HR Halt und wurde schon vor einigen Jahren begonnen. Corona hat dies „nur“ gepusht. Im Vordergrund stehen schnelle und transparente Recruiting- und Bewerbungswege. Heißt, Social Media etabliert sich immer stärker als neuer Recruiting-Kanal, ebenso wie automatisierte Bewerbungsverfahren.
3. Mehr Wert auf Mitarbeiterbindung setzen:
Neben der Gewinnung neuer Arbeitskräfte sind Unternehmen auch bestrebt, ihre aktuellen Mitarbeitenden während Corona zu halten. Wie dies gelingen kann, haben wir im Artikel zu „Arbeitgeber können nicht nicht kommunizieren – Teil 2“ gezeigt. Hierbei liegt der Fokus auf der Kommunikation seitens der Führungskräfte. Darüber sind andere Faktoren, wie Wertschätzung und Unterstützung, für die Mitarbeiterbindung ebenso ausschlaggebend. Denn nicht nur das Unternehmen per se, sondern auch das Personal hat mit der ungewöhnlichen Situation zu kämpfen. Seien es private Schicksale oder berufsbezogene Situationen (Stichwort: Kurzarbeit), die jede einzelne derzeit beschäftigen. In solch unsicheren Zeiten muss der Arbeitgeber unterstützend wirken und für das gesamte Team da sein.
4. Den Talent Pool nutzen und ausbauen:
Der Aufbau eines Talent Pools, insbesondere für Spezialist*innen-Stellen und generell für Engpassberufe, erfährt wegen der zugespitzten Arbeitsmarktlage eine neue Bedeutung. Es wird wichtiger denn je, bereits identifizierte A/B-Kandidat*innen im Netzwerk der Personaler*innen zu halten und mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Ähnlich wie bei der Mitarbeiterbindung, geht es sprichwörtlich darum, „den Fuß in der Tür zu haben“. Mehr Informationen dazu gibt´s hier.
5. Die Arbeitgebermarke stärken:
Gerade jetzt sollte neben Recruiting auch das Employer Branding (wieder) an Fahrt gewinnen oder zumindest nicht abebben. Natürlich ist die Arbeitgebermarke auch vor Corona ein wichtiger Bestandteil in der Gesamtstrategie eines Unternehmens gewesen. Doch die BPM-Berufsfeldstudie „People & Organization 2020“ zeigt, dass Employer Branding während Corona in den Hintergrund gerückt ist. Verständlicher Weise gab es zu Beginn der Pandemie viele Fragen zu klären und organisatorische Prozesse anzupassen, aber mittlerweile haben sich Unternehmen und Mitarbeitende zum großen Teil eingespielt und können ihrem Kerngeschäft wieder nachgehen. Daher sollte auch die Stärkung der Arbeitgebermarke wieder in den Vordergrund treten. Je länger die „Verschnaufpause“ in Sachen Arbeitgebermarke dauert, desto länger bleiben auch die Erfolge aus.
Employer Branding bedeutet langfristig angelegte Ziele und Maßnahmen, deren Effekte sich nicht prompt in den nächsten Zahlen widerspiegeln. Unternehmen müssen also kontinuierlich dranbleiben, jetzt wieder aktiver werden und fokussiert an der Stärkung der Arbeitgebermarke arbeiten.
Meine Learnings
- Es gibt nicht die eine Strategie für alle, sondern je nach Unternehmensgröße, Branche, Berufsfeldern gilt es, individuell auf die jeweiligen Herausforderungen zu reagieren.
- Arbeitgeber sollten wieder den Fokus auf Employer Branding setzen und die Marke stärken.
- Unternehmen müssen zwischen ad-hoc-Reaktionen (zweiter Lockdown, sich im Wandel befindender Arbeitsmarkt) und dem Verfolgen einer langfristigen Employer-Branding-Strategie balancieren und mit entsprechenden Maßnahmen reagieren.
- Arbeitgeber müssen aktiv bleiben, jetzt und in Zukunft geeignete Kandidat*innen zu finden.
Hier finden Sie weitere nützliche Beiträge zu diesem Thema:
- Aufträge ja, Fachkräfte nein: Das Dilemma der Handwerksbetriebe
- HR & Corona: Neues Mindset in Recruiting und Mitarbeiterbindung – Teil 1
- Die Stimme der Arbeitgebermarke
Oder abonnieren Sie unseren HR-Newsletter und bleiben Sie so up-to-date!