Ein Gastbeitrag von Gilles Scheuren
Es ist Zeit für eine Empathie Revolution im Tech-Recruitment. Weg von den alten Klischees. Hin zu neuen Geschichten darüber, was es heißt, eine Entwickler*in zu sein. Wir brauchen ein neues Verständnis. Ein Verständnis, das der Realität entspricht. Ein Update über das Berufsbild der Entwickler*innen.
Herausgefiltert wird, was das eigene Selbstbild stören könnte
Die Welt der Entwickler*innen ist, wie sie ist, aber sie ist auch so, wie wir sie uns gerne vorstellen. “Entwickler*innen sind introvertierte Nerds”. Das ist nur ein Beispiel von unendlich vielen Kategorisierungen, die das menschliche Gehirn ununterbrochen produziert. Durch die zahlreichen Entscheidungen, die wir täglich treffen, ist unser Gehirn auf Vereinfachung angewiesen. Dadurch laufen viele Entscheidungen und Vorgänge unbewusst und automatisiert ab. HR today spricht von sogenannten kognitiven Verzerrungen. Hier ist beispielhaft das Stereotyping zu nennen. Wir müssen oft sehr schnell entscheiden, ob eine Person, die wir neu kennenlernen, vertrauenswürdig erscheint oder nicht.
Sozialpsycholog*innen haben herausgefunden, dass diese Bilder in der Regel nicht auf persönlichen Erfahrungen beruhen, sondern oftmals vom sozialen Umfeld oder der Gesellschaft übernommen werden. Und vielleicht sollten wir alle die Bilder, die wir über Entwickler*innen und deren Job haben, hinterfragen. Denn, Achtung, Spoiler-Alarm: Developer*innen sind auch nur “ganz normale” Menschen. Sie sind Ehefrau oder Familienvater, haben selbstverständlich ein Leben außerhalb ihres Berufs und sitzen nicht 24/7 vor dem PC.
Komplexere Aufgaben: vom reinen Coding zur Lösungsentwicklung
Der Job von Entwickler*innen hat sich über die Jahre verändert. Die Anforderungen haben sich verändert. Die Sicht, wie Entwickler*innen ihren Job sehen, hat sich verändert.
Die Endgeräte werden immer stärker. Die Browser haben mehr Power. Alles soll in Echtzeit und auf Knopfdruck funktionieren. Dadurch verlagert sich das Ökosystem vermehrt ins Frontend, um komplexe Logiken darzustellen. Denn es reicht nicht mehr, dass der Code gut aussieht. Entwickler*innen verstehen immer mehr, dass sie für die Kunden, die User und die Gesellschaft ein Problem lösen. Sie wollen die Anforderungen besser verstehen. Sie stellen Fragen. Kommunizieren besser. Sie lösen Probleme.
Es reicht nicht mehr, nur gut entwickeln zu können. Immer öfter wird von Entwickler*innen gefordert, dass sie Domain-Wissen mitbringen beziehungsweise es sich aneignen, um für die entsprechende Zielgruppe so zu bauen, dass sie von dieser Zielgruppe auch verstanden werden. Bei einem Jobwechsel ist dies ein klarer Vorteil, den die Entwickler*in gegenüber anderen Mitstreitern haben kann.
You build it. You run it.
Damit geht eine gewisse Verantwortung einher. Getreu dem Motto “You build it. You run it” sehen sich viele Entwickler*innen in der Verantwortung, ein Produkt zu bauen, das seinen Usern einen Mehrwert bietet und somit die Bedürfnisse der Zielgruppe stillt. Sie fixen die Bugs auch gerne mal um 3 Uhr nachts. Oftmals übernehmen sie die Aufgaben des Product Owners.
Auch Wirtschaftlichkeit wird immer mehr ein Thema, das von Entwickler*innen berücksichtigt wird. Sie sollen Produkte entwickeln, die sich rechnen und bestenfalls Einnahmen erzielen. Und diese Wirtschaftlichkeit wird auch von den Entwickler*innen vermehrt hinterfragt: “Man müsste doch wissen, ob es sich lohnt, an einem “nicht gewinnbringenden” Feature so lange zu sitzen”.
Aus dem selektiven Informationskosmos ausbrechen
Es liegt im Verhalten der Recruiter*innen, wie der Erfolg ausfällt. Für den Erfolg unerlässlich ist die Tech Empathie: der empathische und sensible Umgang mit dem logisch und analytisch geprägten Mindset von Developer*innen. Entwickler*innen zuhören: Nicht nur im Interview, sondern auch im Umfeld der Entwickler*innen. Damit einher muss eine gewisse Leidenschaft für das Thema gehen. Ein Interesse für die Arbeit und die Menschen.
Doch was machen die Recruiter*innen? Alle strömen sie zusammen, die Expert*innen. Egal ob LinkedIn, Events oder neuerdings auch auf Clubhouse. Dort beziehen sie ihre Informationen von den Personen, die ihre eigenen Überzeugungen verstärken: andere Recruiter*innen. Und so entstehen sie wieder, diese Bilder in den Köpfen, die wieder nicht auf persönlichen Erfahrungen beruhen. Dieser selektive Informationskosmos ist nicht alleine dem Algorithmus geschuldet. Es wird auch durch das eigene Onlineverhalten der Recruiter*innen kuratiert.
Und obwohl sie ahnen, dass sie gerade nur tun, was alle tun, gefallen sie sich immer wieder in der Illusion, als Einzige*r verstanden zu haben, wie der Hase läuft. Aber genau das ist die Krux bei der Sache: Sie tauschen sich untereinander, statt mit den Entwickler*innen aus.
Nähe und Distanz minimieren
Es reicht nicht mehr, gewisse Begrifflichkeiten miteinander zu vergleichen. Und obwohl der Beruf als Entwickler*in nicht verallgemeinerbar ist, sollte das Recruiting idealerweise eine Ahnung von der Methodik und dem Ökosystem haben. Das fordert ein stärkeres Verständnis seitens der Recruiter*innen, andernfalls kann schnell das Bild des oberflächlichen Matchings entstehen.
Es wird immer eine Nähe, aber auch eine Distanz zu den Entwickler*innen bestehen. Und diesen Widerspruch heißt es, zu minimieren.
Tipps für das Tech-Recruiting: Entwickler*innen wollen …
- dass Recruiter*innen Ahnung von Tech haben.
- dass das Angebot individuell auf sie zugeschnitten ist.
- die Zügel selbst in der Hand haben.
- nicht in eine Ecke gedrängt werden und die Übersicht behalten.
- sich gerne mehrere Angebote anschauen und dann das Beste für sich auswählen.
- nicht in Schubladen gepackt werden.
Über unseren Gastautor:
Gilles Scheuren ist preisgekrönter Marketer. Speaker. Dozent an der Aston University in UK. Und leitet seit 2020 das Marketing von matched.io – der Jobmatching Plattform für Entwicklerinnen und Entwickler.