Ein absolut kontroverses HR-Thema ist das Anschreiben. Die anhaltende Debatte darum, ob und wie sinnvoll es ist, existiert gefühlt schon seit der Dinosaurierzeit. Wieso die DIN-A4-Seite so polarisiert und warum die Band „Fettes Brot“ vielleicht die Antwort auf alles hat, klären wir im aktuellen Beitrag auf.
Das Anschreiben – sinnvoll oder sinnlos?
“Das lese ich sowieso nicht” oder “Bewerbungen ohne schaue ich mir gar nicht erst an”. Wenn Sätze wie diese fallen, ist meist die Rede vom Anschreiben. Die Diskussion um die Bedeutung dieser einen DIN-A4-Seite kocht immer wieder auf. Sinnvoll vs. sinnlos – sowohl bei Personaler*innen als auch bei Kandidat*innen gibt es für beide Seiten Zuspruch beziehungsweise Ablehnung. Deshalb lohnt es sich, die Relevanz des Bewerbungsanschreibens einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Der ursprüngliche Sinn des Anschreibens ist ein guter Gedanke
Das eigentliche Motiv des Anschreibens ist, dass die Kandidat*innen ihre Beweggründe, sich genau auf diese Vakanz zu bewerben, zum Ausdruck bringen. So haben sie auf nicht mehr als einer DIN-A4-Seite die Möglichkeit, den potenziellen Arbeitgeber von sich zu überzeugen.
Zwar liefert der Lebenslauf bereits wesentliche Indikatoren, ob diejenige Person für die Stelle geeignet ist oder nicht, jedoch können im Anschreiben bestimmte Fähigkeiten deutlicher herausgestellt und stärker in Bezug zur Stelle gesetzt werden. Das heißt der Fokus beim Anschreiben sollte darauf liegen, Parallelen zwischen den erworbenen Kenntnissen sowie Erfahrungswerte und den Voraussetzungen für die konkrete Vakanz aufzuzeigen. Beispielsweise indem die Kandidat*innen relevantes Know-How anhand eines konkreten Beispiels, wie einer Projektaufgabe beim vorherigen Arbeitgeber, schildern. Denn für ein detaillierteres Bild ist im CV kaum Platz. Zusätzlich gibt es ihnen eine Bühne, sich von einer sehr persönlichen und authentischen Seite zu präsentieren und sich somit von anderen Bewerbungen abzuheben – auch wenn sich die Lebensläufe kaum unterscheiden. Diese Aspekte begrüßen Kandidat*innen und Personaler*innen, die sich für das Anschreiben aussprechen.
Warum stößt das Bewerbungsanschreiben dennoch immer wieder auf scharfe Kritik?
Das Anschreiben für die Bewerbung ist ein Zeitkiller
Eine “zu dünne Personaldecke” sowie der stetige Fokus auf Kosten- und somit Zeitersparnis erhöhen den Druck im Tagesgeschäft und fordern vermehrt Standardisierung. Das hat zur Folge, dass Personaler*innen immer weniger Zeit je Bewerbung zur Verfügung haben. Somit kann nicht jedes Anschreiben die notwendige Aufmerksamkeit bekommen. Einen Beweis dafür liefert eine Untersuchung des Staufenberg Instituts und Kienbaum. Hier geben 40% der befragten HRler*innen an, dass sie circa fünf Minuten für das erste Sichten der Bewerbung inklusive Anschreiben aufwenden. Dabei betonen die Personaler*innen, dass ihnen zu 99% der CV am wichtigsten bei der Bewerbung sei, gefolgt vom Anschreiben mit 71% auf Platz 2.
Dennoch haben Kandidat*innen allzu oft erlebt, dass die Mühe für das Anschreiben kaum belohnt wird, geschweige denn in einem angemessenen Verhältnis zwischen Aufwand und Beachtung steht. Dass der Frust groß ist, zeigt auch die Studie von Indeed. Demzufolge verbringen Kandidat*innen 74 Minuten mit einer Bewerbung, wovon 50% sagen, dass das Anschreiben der nervigste und zeitaufwendigste Teil sei. Generell empfinden 61% den Bewerbungsaufwand als zu hoch. Vor allem die jüngeren Generationen wünschen sich einen schlankeren Bewerbungsprozess – gern auch ohne Anschreiben.
Alle sind sie dynamisch, flexibel und innovativ
Trotzdem ist und bleibt für viele Unternehmen das Anschreiben fester Bestandteil der geforderten Bewerbungsunterlagen, obwohl es tendenziell weniger Aufmerksamkeit erhält. Und weil Kandidat*innen das wissen, versuchen auch sie, immer mehr Zeit und Energie zu sparen, indem sie „bewährte“ Mustervorlagen aus dem Internet für ihr Anschreiben nutzen. Das hat wiederum zur Folge, dass immer mehr Anschreiben gleich klingen und voll von Begriffen wie dynamisch, belastbar, flexibel, teamfähig, kreativ und innovativ sind. Wirklich schlau wird aus diesen leeren Worthülsen niemand und die angepriesene Individualität schwindet ebenso dahin. Da das Anschreiben somit standardisiert wird, sagt es in dieser Form weder etwas über die Person noch deren Qualifikation aus.
Ist das Anschreiben noch zeitgemäß?
Kritisch wird es vor allem durch die anhaltende Zuspitzung des Arbeitnehmermarkts. In den meisten Berufsgruppen sehen sich Personaler*innen diesem Trend bereits seit Jahren konfrontiert. Auf dem heutigen Markt sitzen die „raren“ Fachkräfte am längeren Hebel und können sich bei guter Qualifikation und entsprechendem Bedarf die Stellen aussuchen. Da stellt sich zurecht die Frage, ob es wirklich zielführend ist, ein Anschreiben in der Bewerbung zu verlangen. Denn je komplizierter das Bewerbungsverfahren, desto eher sind Kandidat*innen geneigt, den Prozess abzubrechen.
Vor- und Nachteile im Überblick
VORTEILE
NACHTEILE
Personaler*innen
- tieferer Einblick – Eignung der Kandidat*in für die Stelle
- Erhalt eines authentischen Bildes von der Bewerber*in
- zusätzlicher Indikator zum Person-Job-Fit
- Motivation der Kandidat*in
- wenig Zeit für das Anschreiben
- Gefahr leere Worthülsen, statt Authentizität zu bekommen
- kann Kandidat*innen von Bewerbung abhalten
- nicht zwingend aussagekräftig, da sich Kandidat*innen beim Verfassen helfen lassen können
Kandidat*innen
- sich von der Masse abheben
- Gründe nennen, warum man „die Richtige für den Job“ ist
- die eigene Kreativität und Motivation zum Ausdruck bringen
- hoher Zeitaufwand
- meist wenig Anerkennung oder Rückmeldungen
- wird oftmals nicht bei der Entscheidung berücksichtigt
- Mehrwert nicht für alle Berufsgruppen gegeben
Was nun: Anschreiben ja oder nein?
Je mehr die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche der Kandidat*innen im Recruiting-Prozess berücksichtigt werden, desto positiver fällt die Candidate Experience. aus Für HR bedeutet dies unter anderem verschiedene Bewerbungsmöglichkeiten – mit, ohne oder optionalen Anschreiben anzubieten. Für Jobpositionen, für die beispielsweise ein kreativer Schreibstil und guter Ausdruck relevant sind, kann das Anschreiben durchaus ein geeignetes Mittel sein, um die Eignung beurteilen zu können. So ist es zum Beispiel im Maurerhandwerk weniger entscheidend, ob die Kandidat*in gut schreiben kann, sondern dass sie handwerkliche Fähigkeiten besitzt. Wohingegen Reporter*innen ihr Geld damit verdienen fehlerfreie Stories zu schreiben.
Dieser Meinung ist auch das Unternehmen Baur und kommuniziert auf seiner Karriereseite folgendes Statement:
Wenn es sinnvoll ist: Sei anhänglich!
Deine Bewerbung ist genauso individuell wie du und sollte zu dir passen. Aber muss ein/e Software-Entwickler/-in unbedingt perfekte Anschreiben formulieren können? Und wie wichtig ist es, dass ein/e Ferienjobber/-in oder eine Aushilfe in der Logistik wirklich jedes Komma fehlerfrei setzt? Genau, zweitrangig. Deshalb finden wir, dass es Bereiche gibt, in denen ein Anschreiben nicht unbedingt notwendig ist. Das gilt natürlich nicht, wenn du dich zum Beispiel für ein Praktikum in unserer Unternehmenskommunikation interessierst. Hier ist dein Schreibstil wichtig und den können wir im Anschreiben gleich kennenlernen.
Du bist unsicher? Mach dich nicht verrückt. Wenn uns Unterlagen fehlen, melden wir uns und du kannst sie einfach nachreichen.“
Otto, Lidl und Co machen es vor
Otto hat 2016 eine Pionier-Funktion eingenommen und zuerst das Anschreiben offiziell abgeschafft. Seit 2019 gibt es auch bei der Deutschen Bahn kein Anschreiben mehr für Ausbildungs- und Studienplätze. Die überwiegend positive Resonanz spiegelt sich unter anderem in der steigenden Anzahl der Bewerbungseingänge wider. Das Resultat: 10% mehr Bewerbungen als im Vorjahr, berichtet die DB. Mittlerweile bieten 40% der DAX-Konzerne das Anschreiben nur noch optional an und gerade einmal 18% der großen Unternehmen bestehen weiterhin auf das Anschreiben – Tendenz sinkend.
Alternativen zum Anschreiben
Wie bereits angemerkt, ist das Anschreiben nicht für jede Zielgruppe die beste Wahl, um neben dem Lebenslauf den Person-Job-Fit festzustellen. Je nach Seniorität und Aufgabengebiet gibt es auch andere geeignete Maßnahmen, wie Hackathons, Probearbeiten oder JobChallenges, um die (fachliche) Passung zwischen Kandidat*in und Vakanz einzuschätzen.
Meine Learnings
- Bei der Verwendung standardisierter Formulierungen besitzt das Anschreiben eine verhältnismäßig schwache Aussagekraft über die Person.
- Bei Zielgruppen, bei denen sprachliche und stilistische Raffinesse für die Vakanz ausschlaggebend sind (bspw. im Journalismus), ermöglicht das Anschreiben sowohl den Kandidat*innen als auch den Personaler*innen einen zusätzlichen Beleg für den Person-Job-Fit.
- Anschreiben können bei bestimmten Berufsgruppen (bspw. im Handwerk) ein verfälschtes Bild widerspiegeln, indem Talente aufgrund eines „schlechten“ Anschreibens abgelehnt werden, obwohl deren handwerkliches Können den Anforderungen der Stelle gerecht wird.
- Ist das Anschreiben eine optionale Variable für die Bewerbung, fühlen sich dadurch mehr Kandidat*innen angesprochen.
- Arbeitgeber, die Anschreiben honorieren und in die Bewertung einfließen lassen, sollen diese natürlich auch weiterhin verlangen dürfen.
- Extratipp: Offen und einladend kommunizieren, warum das Anschreiben für die Stelle ausschlaggebend ist.
Es gibt kein klassisches „ja“ oder „nein“ zum Anschreiben. Sondern es bleiben einem nur die Zeilen der Band Fettes Brot zu wiederholen: „Soll ich’s wirklich machen oder lass ich’s lieber sein? Jein.“
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