Im Interview mit Martin Gaedt
Michael: Guten Morgen Martin und herzlich Willkommen auch an alle anderen, die uns heute Morgen zuschauen. Ich freue mich, dass du unser Gast bei unserem neuen Format des Live-Interviews bist.
Um dich kurz anzuteasern: Martin ist in der HR-Landschaft vor allem aufgrund seiner provokativen These bekannt. Denn du sagst, dass es den Fachkräftemangel gar nicht gibt. Stattdessen mangelt es an Ideen. Und genau darum soll es heute gehen. Gibt es den Fachkräftemangel oder haben wir einen Fachkräftereichtum? Das wollen wir heute klären.
Martin: Richtig. Ich will, dass das Wort Fachkräftemangel so peinlich wird wie Kundenmangel! Denn kein Unternehmen stellt sich in die Öffentlichkeit und sagt „wir haben Kundenmangel“, aber im Gegensatz dazu schreien die Firmen seit 1984 „wir haben einen Fachkräftemangel“. Meine Erfahrungen haben gezeigt, dass es weder an der Branche noch an der Unternehmensgröße oder dem Standort liegt – sondern immer am Unternehmen selbst und dem Spirit.
Michael: Stichwort „Unternehmen“. Während Corona gab es die Frage, in welchem Szenario wir uns befinden (L, U, V oder Swoosh). Damit kam bei manchen die leise Hoffnung auf, dass die Fachkräfte wieder beim Unternehmen Schlange stehen werden. Mittlerweile wissen wir, dass es nicht zu einer Massenarbeitslosigkeit etc. kam und es in puncto Personalgewinnung nicht einfacher werden wird.
Michael: Covid-19 hat uns lange genug beschäftigt, sodass sich auch Verhaltensweisen ändern konnten. Arbeitnehmer*innen in der Reisebranche haben sich zum Beispiel nach Alternativen umgeschaut, welche Jobs noch zu ihren Kompetenzen passen könnten. Kommt es dadurch zu einer Art „Bereinigung“ des Arbeitsmarktes?
Martin: Die Problematik liegt für mich eher darin, dass wir ein sehr statisches und engstirniges Bild von „dem Arbeitsmarkt“ und „der Wirtschaft“ haben. Deutsche Unternehmen leben im Schnitt 16 Jahre – dadurch ergibt sich automatisch ein Kommen und Gehen. Und „die Wirtschaft“, die in den Medien präsent ist, erzeugt ein falsches Verständnis, weil hier nur die 0,09% der großen Unternehmen beleuchtet werden. Doch zur Wirtschaft gehören vor allem die KMUs, die weniger in der Öffentlichkeit stehen. Ich fände es gesünder, wenn wir ein Bild entwickeln, was von Übergängen lebt.
Michael: Ja, kleine Betriebe haben natürlich eine ganz andere Signalwirkung als Konzerne, hinter denen eine ganze Lobby steht.
Martin: Du sagst es. Aber auch die kleinen Firmen können eine enorme Wirksamkeit erreichen. Ein Glasermeister aus Cuxhaven hat ein Video mit dem Handy gedreht und ging damit viral. So ist er im Stern, Spiegel & Co erschienen. Oder die Stadtverwaltung Hamm sucht Bauingenieur*innen und bekommt ein halbes Jahr lang keine Bewerbung. Warum? Weil es niemand wusste. Daraufhin hat die Stadtverwaltung eine Ausschreibung geschalten, bei der drei Bauingenieur*innen, die bei ihnen anfangen, eine Kreuzfahrt geschenkt bekommen. Und zack, erhalten sie 38 Bewerbungen, stehen in der BILD und werden von RTL gefeatured. Es ist also nie eine Frage der Branche, der Stadt oder der Arbeitgebermarke, sondern die Relevanz einer Aktion, um Aufmerksamkeit zu generieren.
Michael: Ich weiß, du bist ein großer Verfechter von „einfach machen“. Jetzt ist genau das nicht in jeder Organisation gern gesehen oder leicht umsetzbar. Wie löst man das Thema „Sichtbarkeit“, ohne auf lange Entscheidungen eines Arbeitskreises oder große Budgetfreigaben warten zu müssen?
Martin: Erstmal bräuchte jede Personaler*in ein Mini-Budget für Pilotprojekte. Ich habe das von so vielen gehört, die geile Ideen hatten, aber im Unternehmen auf enorme Widerstände gestoßen sind. Eine Personalerin eines Ingenieurbüros hat mal in einer ihrer Stellenausschreibungen geschrieben, dass sie unter allen qualifizierten Bewerber*innen vier Tickets für Wacken verlosen. Denn sie hatte festgestellt, dass überdurchschnittlich viele Softwareentwickler*innen und Ingenieur*innen auf dieser Veranstaltung sind. Diese Stellenanzeige ging natürlich viral und sie hat so viele gute Bewerbungen wie nie zuvor bekommen. Daher sollten Personalverantwortliche eine Experimentierbudget haben. Auch und gerade weil niemand vorhersagen kann, ob eine neue Aktion erfolgreich sein wird oder nicht.
Michael: Aber nur mit dem Budget habe ich noch nicht das Mindset, zu sagen „ich mache das jetzt auch“. Nicht alle haben das Verständnis und meinen, dass es zu ihren Aufgaben gehört, auch Marketing zu machen. Manche sehen ihre Verantwortung nicht darin. Was ist mit denen?
Martin: Völlig richtig, dann muss ich mir die Allianzen im Unternehmen suchen, die das wollen und können. Weil, wenn ich unbekannt bin, kann sich keiner bewerben. Meine Lieblingsfrage an Unternehmen ist immer
Michael: Das ist korrekt. Aber scheinbar haben die Unternehmen dann keinen Schmerz, oder? Im Vertrieb würde man den Lead doch auch nicht warten lassen.
Martin: Doch, sie haben einen Schmerzpunkt und den nennen sie „Fachkräftemangel“. Es liegt aber zum großen Teil an den eigenen Strukturen, die das Recruiting hemmen.
Michael: Richtig, im Gespräch mit potenziellen Kund*innen hören wir allerdings häufig, dass sie gar keine Zeit haben, um nach neuen Ansätzen „Ausschau zu halten“. Ist es dann also ein Ressourcenmangel?
Martin: Nicht wirklich, es sind die internen Prozesse, die aufgebrochen werden müssen, damit Ideen überhaupt Platz haben. Meine Workshops zur Ideenfitness beginnen stets mit derselben Übung: Personalverantwortliche sollen sechs Elemente ihrer Prozesse aufschreiben, drei davon streichen und drei neue ergänzen. Denn wenn nie etwas gestrichen wird, entsteht auch kein Raum für Neuerungen und Experimente.
Michael: Jetzt bist du natürlich gut im „Ideen finden“ und hast bereits vielen Unternehmen geholfen. Im Alltagsgeschäft einer Personaler*in ist das nicht so einfach. Was würdest du denn derjenigen raten?
Martin: Mach das Naheliegendste und Einfachste. Ich habe die genannten Beispiele ja auch nicht entwickelt, sondern das haben sich Personaler*innen einfallen lassen. Ich bin eher einer der Gebrüder Grimm und sammle diese Geschichten zusammen. Oftmals sind es simple Ansätze, wie den Kundenstamm zu fragen, ob sie geeignete Kandidat*innen kennen oder die eigenen Mitarbeiter*innen in die Personalgewinnung mit einzubeziehen. Das kostet nix. Das dadurch „gesparte Budget“ kann für andere HR-Bereiche eingesetzt werden. Daher ist das Naheliegendste oft die beste Idee.
Michael: Das ist ein gutes Schlusswort, Martin. Ich bedanke mich sehr bei dir. Ich hoffe, der Kaffee hat dir geschmeckt. Wir versorgen ja all unsere Interviewpartner*innen mit Kaffee aus unserem Büro, den wir von einer Erfurter Rösterei beziehen.
Martin: Es ist mein Lieblingskaffee – ich will schon nachbestellen.
Michael: Das freut mich. Dir noch alles Gute und frohes Schaffen für dein neues Buch. Wir sind gespannt, was du wieder aus deiner Ideenkiste zusammenbastelst.
Auf unserem YouTube-Kanal haben wir das gesamte Live-Interview aufgezeichnet:
Viel Spaß beim Anschauen!
Kleiner Teaser: Das nächste Live-Interview findet am 26.September 2021 um 8 Uhr Herzblut-Personalerin Eva Stock auf unseren YouTube-Kanal statt!